Praxistag mit Themenschwerpunkt auf angewandter Diagnostik

Im Mai 2024 fand ein Praxistag statt, auf dem uns drei Expertinnen Einblicke in die Rolle von Diagnostik in ihren jeweiligen praktischen Anwendungsfeldern gaben.  

Aus der angewandten Sozial- und Wirtschaftspsychologie stellte Prof. Margarete Boos vor, wie standardisierte Fragebögen dabei helfen können, erfolgreiche Teams zu bilden. In diesem Projekt waren es Startups aus der Technologie-Branche, die Frau Boos während ihrer Gründungsphase begleitet hatte. In Teams helfe es, wenn die Mitglieder möglichst verschiedenartige Rollen einnähmen.

„Das Problem sind eher zu homogene Gruppen, in denen sich eine gemeinsame Sicht der Dinge entwickelt, Abweichler die Gruppe verlassen und weniger Lernen stattfindet“ 

informiert Professorin Boos, die bis 2023 auch die Abteilung für Sozial- und Kommunikationspsychologie an der Universität Göttingen leitete. Auf Basis eines selbstentwickelten Diagnostik-Tools ist es möglich, die Zusammenstellung eines Teams genauer zu analysieren und sie dann so zu gestalten, dass möglichst alle Schlüsselfunktionen und Verantwortungsbereiche abgedeckt sind. Dies kann auf Grundlage der Diagnostik im systematischen Austausch mit den Teammitgliedern geschehen.

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Foto: Professorin Margarete Boos zeigt uns, wie eine ausgewogene Teamzusammenstellung mittels geeigneter Diagnostik optimiert werden kann

 

Für das große Berufsfeld der klinischen Psychologie und Psychotherapie gab uns die mittlerweile approbierte Psychotherapeutin Valerie Arand differenzierte Einblicke in die diagnostische Praxis am Therapie- und Beratungszentrum Göttingen.

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Foto: Therapeutin Valerie Arand gibt Göttinger Psychologiestudierenden Einblicke in die umfassende Diagnostik am Therapie- und Beratungszentrum

Wir lernten aus ihrem Vortrag, welche diagnostischen Phasen alle behandelten Personen durchlaufen — beginnend mit einer umfassenden Klärung der individuellen Ausgangslage und des Behandlungsangebots im Rahmen der sogenannten „Probatorik“. Diese umfasse außerdem noch verschiedene standardmäßig eingesetzte diagnostische Instrumente, wie ein diagnostisches Interview und einen Fragebogen zur biographischen Vorgeschichte. Ergänzt werde dies durch störungsspezifische Fragebögen, die eine Betrachtung der Symptomentwicklung im Zeitverlauf erlauben. Nicht zuletzt diene auch die Zufriedenheit mit der therapeutischen Beziehung sowie mit der Behandlung als wichtige Informationsquelle während der Therapie.

„Manchmal sieht man die Folgen aktueller Ereignisse sehr deutlich in den Verlaufsdaten“ 

illustriert uns Frau Arand anhand eines Fallbeispiels. Das helfe dann sehr dabei, wichtige Entwicklungen nicht zu übersehen und darauf eingehen zu können.  


Zum Abschluss des Tages durften wir noch etwas aus einer ganz anderen Richtung erfahren — aus dem Themenfeld der rechtspsychologischen Begutachtung in familienrechtlichen Fragen und zur Glaubhaftigkeit von Zeug*innenaussagen. Für uns nach Göttingen gekommen war die Leiterin des Instituts für Rechtspsychologie Rhein-Main, Dr. Nicole Kratky, die uns vielfältige Informationen rund um die Begutachtung, den beruflichen Einstieg in dieses Feld und zu verschiedenen Details und Herausforderungen gab.

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Foto: Rechtspsychologin Dr. Nicole Kratky auf dem Praxistag 2024 in Göttingen

Es wurde deutlich, dass psychologischen Sachverständigen in diesem Kontext eine anspruchsvolle und sehr verantwortungsvolle Rolle zukommt. Um die hochkomplexen Situationen sorgfältig zu untersuchen, könnten oft keine normierten Tests eingesetzt werden, weil diese teilweise schlicht nicht existierten. Stattdessen werde neben Aktenanalyse und Exploration (im Gespräch mit Betroffenen oder Angehörigen) idealerweise auch auf Beobachtungen des Umgangs zwischen Eltern und Kindern in ihrer eigenen Umgebung zurückgegriffen. Im gesamten Ablauf sei ein solides Verständnis der rechtlichen Hintergründe sehr hilfreich.

„Man muss aber nicht alles auswendig wissen“ 

beruhigt uns Dr. Kratky. Sie empfiehlt Berufseinsteiger*innen, in den ersten Jahren aktiv die enge Beratung durch bereits erfahrene Gutachter*innen zu suchen. Es gäbe sehr viele Besonderheiten, bei denen es helfe, von anderen lernen zu können. Auch die Möglichkeit, sich von erfahrenen Kolleg*innen regelmäßig eine fachliche Rückmeldung einzuholen, schätzt sie als äußerst wertvoll ein. 

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Foto: Nicole Kratky hatte viele spannende Tipps für uns aus ihrer eigenen Erfahrung als Ausbilderin von Nachwuchsgutachter*innen

 

Bevor es zu dieser Veranstaltung kam, hatten viele Studierende den Wunsch geäußert, gerne noch mehr Einblicke in die praktischen Berufsfelder von Psycholog*innen erhalten zu wollen. Die Verbindung aller Vorträge verschaffte uns einen Überblick über die vielfältigen Einsatzgebiete für psychologische Diagnostik — aus Sicht ihrer Anwenderinnen. Auch der mögliche Nutzen oder die daran geknüpften weiteren Entscheidungen wurden so erkennbar. 

Mit seinen 284 Sitzplätzen direkt am botanischen Garten bot uns der Audi 11 eine anregende Kulisse für diese Veranstaltung und war bei allen drei Vorträgen erfreulicherweise gut gefüllt. Vor diesem Hintergrund wäre es toll, wenn sich in ein paar Jahren nochmal ein ähnliches Veranstaltungsformat ins Leben rufen lässt. An dieser Stelle gebührt den drei Referentinnen nochmal ganz besonderer Dank dafür, uns allen so sehr dabei geholfen haben, die enge Verbindung zwischen Theorie und Praxis noch lebendiger vor Augen zu haben!

Veranstaltungshinweis: Im laufenden Wintersemester 2024/2025 findet übrigens gerade die Ringvorlesung "Einblicke in die psychologische Praxis" statt, bei der ebenfalls verschiedene Berufspraktiker*innen vor Ort sind und uns aus ihren spannenden Tätigkeiten berichten. Das ist eine ganz besondere Gelegenheit — nicht verpassen!